Von Hartmut Fähndrich
Ein Blick auf die heutige ägyptische Literatur offenbart eine erstaunliche Vielfalt an literarischen Gattungen und Tendenzen. Am ausgeprägtesten entwickelt ist dabei die Prosa – Romane und Kurzgeschichten –, in der Naǧīb Maḥfūẓ, der Nobelpreisträger für Literatur von 1988, sozusagen nur die “Spitze des Eisbergs” ist, eines Eisbergs mannigfacher Stile und Inhalte. Dagegen ist das Interesse an dem literarischen Genre, das einst als arabische Literaturform par excellence galt, der Lyrik, in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgegangen, eine Entwicklung, die auch von zahlreichen ägyptischen Autoren dieses Jahrhunderts als ,normal’ im Rahmen der “Modernisierung” des Landes und seiner Kultur interpretiert wird. Das Drama schließlich, das in den letzten hundert Jahren eine ganze Anzahl bedeutender Vertreter hervorgebracht hat, büßte in den letzten zwei Jahrzehnten viel von seinem Schwung ein, den es während der fünfziger und sechziger Jahre hatte. Die Entwicklung dieser literarischen Vielfalt, mit Höhen und Tiefen, erfolgte etwa im Verlauf der vergangenen hundert Jahre durch Übernahme westlicher Vorbilder sowie durch Verarbeitung, Weiterentwicklung und Umgestaltung der eigenen arabischen Traditionen, die immerhin auf eine fünfzehnhundertjährige Geschichte zurückblicken können.
Die erste Runde der “Modernisierung” des Nillandes, die der ägyptische Herrscher Muḥammad ʾAlī (er regierte 1805–1849) ...